1956 im Dampfzug von Gronau nach Dortmund. Wir saßen in einem dieser alten preußischen Abteilwagen. Soeben hatte der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle die Abteiltür von außen geöffnet. Auch wenn ich dies alles faszinierend fand, war ich auf halber Strecke hinter Dülmen eingenickt. Jetzt weckte mich die Mutter. Es war dunkel geworden. „Boaah!“ Wir fuhren an einer glühenden Feuerwand vorbei, die soeben umzustürzen schien. „Da macht man Koks“ erklärte die Mutter. Ich war wieder hellwach.
Auf dem Bahnsteig stand schon die Tante. Am Bahnhofsvorplatz wartete der Onkel, stolzer Besitzer eines 4-sitzigen Fiat Topolino. Wir fuhren nicht weit und ich konnte mich nicht sattsehen an den vielen Lichtern, den Ampeln und vor allem der bunten Neonreklame. Die deutsche Wirtschaft brummte und alle glaubten daran, dass man nur fest zuzupacken brauchte, und schon hätte man ein eigenes Haus und Auto. Onkel und Tante waren sogar schon in den Urlaub nach Italien gefahren. Zunächst noch mit der Vespa, doch mittlerweile mit dem Auto.
Ihre Wohnung lag unweit der Kaiserstraße. Keine alten Möbel wie bei uns daheim, sondern Onkel und Tante waren durchwegs modern eingerichtet. Ich war schwer beeindruckt. Wir hatten daheim zwar alles, was wir brauchten, doch während Onkel und Tante kinderlos waren, waren wir daheim zu fünft und als jüngster von drei Jungs litt ich bisweilen darunter, dass ich das abgelegte Gewand meiner älteren Brüder bekam. Später dann, als ich zur Schule ging, habe ich erfahren, dass es den meisten Kindern in meiner Klasse trotz Wirtschaftswunder schlechter ging. Bei uns in Gronau gab es besonders viele Flüchtlinge und Vertriebene, und die ortsbeherrschende Textilindustrie bot damals noch ihnen allen eine bescheidenes, aber gesichertes Einkommen.
Da Onkel und Tante am Folgetag arbeiten gingen, machte sich meine Mutter mit mir auf ins Zentrum. Toll, so viele Leute, die geschäftig am Ostenhellweg herumflitzten. Kaufhäuser und alle mit Rolltreppen! „Lütgenau“ war ein Spielwarengeschäft mit zwei Etagen! Ich bekam mein erstes „Pustefix“. Von überall hörte man das Klingeln der Registrierkassen. Ganz anders als bei “Hill” oder “Ernsting” daheim. Hier pulsierte der Konsum spürbar machtvoller.
Im Zentrum hinter der Reinoldikirche gab aber es auch Ruinen- und Trümmergrundstücke. Mühsam kaschiert, doch man arbeitete daran, diese rasch durch Neues zu ersetzen. Mit wachsendem Wohlstand ist dabei vieles ebenso verloren gegangen, wie man die sachgerechte Aufarbeitung der eigenen Geschichte ebenfalls nur allzu oft für verzichtbar hielt.
Im Kindergartenalter durfte ich noch unkritisch an dieser Wachstumseuphorie des Wirtschaftswunders teilhaben, doch schon 12 Jahre später fühlten sich die ersten meiner Generation von den Versäumnissen vieler unserer Eltern eingeholt. Mit dem Erfolg des sog. 68er Protests war ich zwar nicht zufrieden, doch ist er rückblickend eine für mich unverzichtbare Erfahrung geblieben.
© Klaus Schedler 2019-05-09