by Mary Modl
Ich lebe in einer lauten Welt. Meiner lauten Welt. Laut seit meiner Geburt.
Bei uns muss immer hochfrequenziger als in den meisten anderen Familien gesprochen werden. Mein Bruder mit seiner Gehörbesonderheit bedarf Klangfarbe verdichteten Sprechens; deutlich vernehmbare Worte, intensiver in der Aussprache, als es andere Konversationen verlangen. Wer nun meint, der lautstĂ€rkenmĂ€Ăigen ReizĂŒberflutung des Heutes stĂŒnde ich aufgrund dessen abgehĂ€rtet gegenĂŒber, der irrt. Im Gegenteil. Das Forte meines Lebens mĂŒndete sogar in ein Fortissimo.
FrĂŒher hatte ich einen ganz besonderen Ort, wo ich stets dann Zuflucht suchte, wenn mir mein Drumherum zu grell wurde. Der Steinberg, 317 Höhenmeter oberhalb meiner Weinviertler Heimatgemeinde. Dort finden sich wunderbare PlĂ€tze zwischen den Weinbergen, um einfach innezuhalten. Je nach saisonaler Taktung der Natur bietet sich dem Betrachter ein toskanisch anmutendes Landschaftsszenario, das automatisch den inneren Resetknopf aktiviert und sein reizĂŒberflutetes Standardprogramm abzuschwĂ€chen versucht. Ein wertvolles Regulativ, dich Ruhe finden zu lassen.
Mein Lieblingsplatz, besonders im FrĂŒhherbst. Weit geht dann der Blick an sonnig klaren Tagen ĂŒber die noch nicht abgeernteten Sonnenblumenfelder zu den Marchauen hinaus, bis er an den slowakischen Karpaten haftenbleibt. Das wunderbare Farbenspiel der Natur wirkt besonders zu dieser Jahreszeit wie ein GemĂ€lde Monets; EindrĂŒcke, die dich ganz still werden und jeden Atemzug entschleunigend wirken lassen; die erkennend machen.
Diese Auszeitmomente gönnte ich mir anscheinend nicht oft genug. So eskalierte das Laut meiner Welt vor etwa vier Jahren in einem Fortissimo in meinem Kopf. Auch Tinnitus genannt. Behandlungsmethoden wurden mannigfaltig ausgeschöpft; Therapien erfolglos begonnen und erfolgreich abgebrochen; GehörstĂŒrze â einhergehend mit stundenlangen Drehschwindelattacken â wurden beinahe zur Routine. Den Verursacher kannte ich bereits, bevor ihn der erste Arzt entlarvte. Zu lange redete ich mir ein, mein Stress sei ein positiver.
Endlich begann ich mit meiner Ursachenforschung; das Ăbel an der Wurzel zu packen â nicht am Schopf. Mein Körper und mein Geist verlangten danach; nach viel mehr Stille in mir. Im Erkennen liegt die Chance. Ich gönnte mit wieder MuĂestunden; und ich lieĂ es wieder zu, mich mehr von der Muse kĂŒssen zu lassen. Zuerst waren es die BĂŒcher, die wieder in meine Welt eintraten; die fĂŒr mich wieder unverzichtbarer Teil meines Selbst werden durften. Und dann begann ich wieder zu schreiben; zuerst Gedichte, dann Kurzgeschichten und seit beinahe einem Jahr bin ich Storytellerin.
Mein Tinnitus akzeptiert es nun, dass ich ihm den Takt vorgebe; immer mehr. Er ist bereit sich meinem Rhythmus anzupassen. Die innere Karussellfahrt meiner Seele entschleunigt sich zusehends mit meiner Bereitschaft, ein wachsames Auge auf die inneren und Ă€uĂeren Dinge zu haben.
© Mary Modl 2019-11-23