Traumfänger

Daniel Selent

by Daniel Selent

Story

Erik hat Angst vor dem Zubettgehen. Jede Nacht bleibt er bis in die frühen Morgenstunden wach, nur um im Bus auf dem Weg zur Arbeit einzudösen und das Nickerchen am Schreibtisch fortzusetzen. Diese kurzen Phasen sind für ihn die einzige Möglichkeit, etwas Ruhe und Entspannung zu finden.

In diesen Situationen träumt er nicht.

Die Albträume plagen ihn schon seit Wochen. Sie wechseln sich ab, allerdings scheinen es immer dieselben sechs Träume zu sein. Als wäre sein Hirn ein Fernseher, dessen sechs Kanäle je einen Horrorfilm in Dauerschleife zeigen. Schreckliche, blutrünstige Snuff-Streifen, Splatterfilme von wahnsinnigem Realismus.

Eine seiner Kolleginnen bei der Arbeit, Suena, schenkt ihm eines Tages nach Feierabend einen Traumfänger, lächelt ihm mitfühlend zu und wünscht ihm ein erholsames Wochenende. “Der fängt die bösen Träume ein”, sagt sie und zwinkert ihm zu. “Probier ihn aus und gib ihn mir wieder zurück, bitte.” Ihr Lächeln wird etwas blasser.

Diese Nacht will er den Traumfänger übers Bett hängen und wie ein normaler Mensch zu einer gewissenhaften Uhrzeit schlafen gehen.

Die Laken und Bettbezüge riechen angenehm frisch, er hat seit Wochen nicht mehr darin gelegen. Der Traumfänger baumelt am Kopfende des Bettes nahe seiner Stirn, so hat es seine Kollegin ihm erklärt. Zögernd schließt Erik die Augen und schläft rasch ein. Schon bald beginnen seine Augen sich hinter den Lidern zu drehen.

Am nächsten Morgen wacht Erik ausgeschlafen und erfrischt auf. Er kann sich nicht an irgendwelche schrecklichen Träume erinnern, also muss der Traumfänger wohl seine Wirkung getan haben!

Der heutige Samstag ist der beste seit Wochen. Erik fühlt sich putzmunter und nimmt sich vor, den Traumfänger am Montag zurückzugeben. Die Nacht von Samstag auf Sonntag hält ebenfalls nur ruhigen, traumlosen Schlaf für ihn bereit. Erik kann kaum glauben, dass der indianische Gegenstand wirklich funktioniert.

Im Büro herrscht das übrige Montags-Tief. Erik trifft Suena beim Kaffeeautomaten und reicht ihr strahlend den Traumfänger. “Das hat mir allem Zweifel zum Trotz sehr geholfen”, lacht er.

Suena steckt das Gebilde in ihre Handtasche und wünscht Erik einen schönen Tag. Sie tut das auf eine kalte, distanzierte Weise. Erik geht verwirrt und ein bisschen traurig an seinen Arbeitsplatz.

Nach der Arbeit fährt die junge Frau nach Hause und abends, während alles um sie herum still wird und einschläft, saugt sie all die Albträume ihrer Mitmenschen auf, die sich im Traumfänger angesammelt haben. Suena liegt mit zur Schädeldecke gedrehten Augen da, die Gliedmaßen zucken, und ergötzt sich an Eriks Albträumen. Sie sind für sie wie Nahrung, sie ist ein Traumvampir. Später fragt sie sich spielerisch, wem sie ihr Spielzeug als Nächstes ausleihen soll …

© Daniel Selent 2023-07-15

Genres
Suspense & Horror, Anthologies
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional