Ich bin in einem behaglichen Einfamilienhaus in einer Kleinstadt im südlichen Niederösterreich aufgewachsen. Es fehlte mir an nichts. Eine liebende Familie, ein großzügiger Garten, Bäume zum Klettern, eine eigene Wiese mit 2 rostigen Fußballtoren ohne Netz. Obgleich ich in ein paar Gehminuten im Stadtzentrum war, fühlte ich mich dennoch mehr als “Landei”, zumal in den 80er Jahren meine Heimatstadt im Vergleich zu heute noch recht verschlafen wirkte. Meine schon damals vorhandenen kulturellen Bedürfnisse konnten meine Heimatstadt und mein Umfeld nicht befriedigen. Es gab kein Kino, kein Theater, auch keine Schulfreunde, die so tickten wie ich.
So mutet es wenig überraschend an, dass ein damaliger Ausflug in die eine Fahrstunde entfernte Großstadt Wien ein absolutes Highlight für mich war. Es eröffnete mir eine Welt, in der ich mich am Grund meiner Seele wohl und verstanden fühlte; es war das Kontrastprogramm zu meiner kleinen beschaulichen Welt zwischen Gymnasium, Musikschule und daheim.
Wenn wir in Wien waren, verbrachten wir in der Regel nur wenige Stunden da. Der Aufenthalt war meist mit einem Zahnarztbesuch auf der Wieden verbunden – Zahnspange sei Dank. Schon die Fahrt nach Wien war ein Erlebnis. Mit jedem gefahrenen Autobahnkilometer stieg meine freudige Nervosität, ich spürte ein wohliges Kribbeln, wie ein verliebtes Schulmädchen. Die Südosttangente war keine verhasste Stadtautobahn, sondern der Weg zu meinem Sehnsuchtsort.
Und da war er plötzlich: der Geruch der Großstadt! Ich fand mich wieder im pulsierenden Leben einer Hauptstadt, umgeben von Verkehrslärm, bimmelnden Straßenbahnen und mehrsprachigem Stimmengewirr. Ich blühte auf in diesem internationalen Flair, und ich empfand einen undefinierbaren patriotischen Stolz.
1991 zog ich nach Wien um zu studieren. Ich fühlte mich seltsam erwachsen und lebendig zwischen den Dealern am Karlsplatz und der vor Hochkultur strotzenden Oper. Natürlich nahm das Kribbeln langsam ab, doch da gab es schon etwas, was mich in Sekundenschnelle in den stolzen Großstadt-Modus versetzte: bei der täglichen U-Bahn-Fahrt hat es mir eine Stationsansage besonders angetan, damals noch gesprochen von Franz Kaida. Sie schien ewig lang:
“Karlsplatz, Oper. Umsteigen zu den Linien U2, U4, D, J, 1, 2, 3A, 4A, 59A, 62, 65 und zur Lokalbahn nach Baden.”
Da spürte ich ihn wieder, den Großstadt-Nimbus …
Bis heute komme ich sehr gern in meine Heimatstadt und mein Elternhaus zurück. Wenn ich mit dem Zug dann wieder retour nach Wien fahre und die vertraute “Wien Meidling, Wien Meidling” – Ansage (inklusive Meidlinger-“l”) höre, bemerke ich kein Kribbeln mehr. Aber ich komme nie selbstverständlich in diese Stadt. Sie ging bis heute nicht verloren, die Faszination und die Dankbarkeit, in Wien leben zu dürfen.
© Christina Glück 2020-08-14