by MiaDandra
Der holzige Geruch und der herbe Geschmack der feuchten Stäbe meines Gitterbetts ist tief innen in meinem Archiv der Sinne gespeichert. Ich kaute gerne am Holz des Gitterbetts, so auch als sich plötzlich die Küchentür öffnete und sie mich mit ihrem Singsang herzlich begrüßte.
Sie erzählte mir oft davon, wie ich vor Freude über ihr Ankommen im Bett hüpfte und ihr meine Arme entgegenstreckte. Sie befreite mich aus meinem Kleinkindgefängnis, wo mich meine Mutter aufgrund ihrer vielen Pflichten deponierte. Die fremde Frau, die damals in unser Haus trat, war in Begleitung einer riesigen grünblau karierten Reisetasche, aus der wunderbarer Duft von mir unbekannten Dingen strömte. Sie roch nach reifen Orangen, cremiger Schokolade, frischer Wäsche und den all das, durchdringenden Duft des Mundwassers Odol. Der Befreiung aus dem Gitterbett folgte das Auspacken dieser Wundertasche. Es mag der Sommer 1964 gewesen sein, als ich diese herzlich mir zugewandte Frau kennenlernte. Ab diesem Zeitpunkt verbrachte die Resitant, in Begleitung ihrer duftenden Tasche, die Sommermonate immer wieder in meiner Familie. Sie wurde mir und meinen Brüdern zur Leihoma und meinen Eltern zu einer wertvollen Hilfe in Haus und Hof. Meine Mutter gab ihr gern den Kochlöffel ab und ließ sie dankbar schalten und walten.
Sie kam an den Ort zurück, an dem ihr mein Urgroßvater als zehnjähriges Waisenkind ein Zuhause gab. Als Jugendliche ging sie dann nach Wien „in den Dienst”. Über ihre Vergangenheit hatte die Resitant nie gesprochen. Unter vorgehaltener Hand hörte ich von meinen Eltern, dass ihr Mann Alkoholiker gewesen sei und ihr das schwer verdiente Geld aus den Taschen zog. Ihr Sohn sei behindert gewesen und in der Nazizeit umgekommen. Mehr erfuhr ich nicht. Die zahlreichen Bilder aus ihrer Hinterlassenschaft sprechen zu mir. Die alten Fotos zeigen sie mit ihrem Sohn, traurig und in sich gekehrt in den kargen 1930er Jahren. Die hellen Bilder stammen aus den 70er Jahren: Ich sehe fröhliche Gesichter auf Urlaub in den Bergen oder am Meer. Sie putzte, streng auf Ordnung bedacht, in einem Krankenhaus und konnte sich so das Vergnügen der neuen Zeit mit Freunden und Freundinnen leisten.
Doch die Verletzungen und der Schmerz, von denen sie nie sprach, holten sie immer wieder ein. So geschah es, dass sie eines Tages, wegen schwerer Depressionen in der Psychiatrie der Baumgartner Höhe aufgenommen wurde. Meine Mutter wollte das nicht zulassen und holte sie mit meinem Bruder auf eigene Verantwortung heraus. In meinem Elternhaus erholte sich die Resitant schnell wieder, kochte ihre deftigen Speisen und wurde diesmal sämtlichen Enkelkindern meiner Eltern zu einer liebevollen Leihuroma. Mit über 80 Jahren erkrankte sie an Lungenkrebs, meine Mutter pflegte sie bis zu ihrem Tod. Sie war Teil unserer Familie und wir wussten so wenig über ihre schwere Kindheit und den Verlust ihres Sohnes. Am Grab stand ihre Adoptivfamilie, die „Urenkel” weinten herzzerreißend.
© MiaDandra 2020-05-07