by Eva Lunger
Nun ist Walter wieder allein in dieser furchtbar zerstörten Stadt, wo man nur mehr von Fliegerangriff zu Fliegerangriff lebt. Alarm, Alarm – kein Licht in der Wohnung, nur Kerzenlicht, solange man noch welche hat. Geschlafen wird in den Kleidern, damit man gleich in den Keller laufen kann. Lebensmittel und Kleider mitnehmen, Papiere und das wenige Wertvolle in einem Beutel um den Hals binden und wieder Stunde um Stunde im nassen, dunklen Keller ausharren.
Aber ich will nach vorne schauen, der Krieg soll ja bald zu Ende gehen und wir werden dann wieder alle vereint in Innsbruck sein. Das ist der innigste Wunsch und darum bete ich von ganzem Herzen!
Meine Gedanken kehren wieder in die Gegenwart zurück. Wo sind wir denn inzwischen? Ich traue meinen Augen nicht – sehe Berge und Hügel, Burgen und Schlösser. Wir fahren gerade in den Bahnhof von Rosenheim ein. Ich möchte lachen und singen, aber bei der Einfahrt in den Bahnhof kommt die Meldung: „Alle Personen müssen den Zug und den Bahnkörper sofort verlassen!“ Ich sehe auch wieder die gelben Fähnchen – Fliegeralarm! Wir rennen über die Straße einfach in fremde Häuser hinein und bleiben dort, bis Entwarnung ist. Es kracht um uns herum, aber nicht am Bahnhof, da dieser bereits zerbombt und zerstört ist. Und wieder geht es weiter. Ich bin so aufgeregt, bald bin ich daheim, kann meine Mutter und die Mama von Walter in die Arme nehmen. Wir fahren in Kufstein ein. Ein alter Personenzug wartet als Anschlusszug nach Innsbruck. Grüne Waggons mit offenen Plattformen und er ist ganz voll. Ich komme nicht in das Innere des Zugs, um mich auf eine Holzbank zu setzen. Ich muss außerhalb der Tür stehen bleiben, lehne mich an die grüne Wand und halte mich an einem Eisengitter fest. Der Rucksack und der alte Koffer stehen eingeklemmt zwischen meinen Füßen. Ich spüre den Wind und die kalte Luft vom Inn. Daheim, endlich wieder daheim nach so schlimmen Wanderjahren. 1938 brach das Leid über uns herein, ich musste weg von Mama und von allem, was mir lieb war. Aber davon will ich später erzählen, will es verarbeiten und vergessen. Wie werde ich meine Heimatstadt Innsbruck vorfinden? Die vertraute Landschaft gleitet an mir vorbei. Es ist dämmrig und kalt und ich bin so müde.
Innsbruck Hauptbahnhof, 21:30 Uhr. Ich habe es geschafft, ich lebe und bin wieder daheim in Tirol. Müde schleppe ich mich in den Saggen zu Mama Lunger. Der Weg zog sich fürchterlich, nicht nur aus Müdigkeit, nein, weil mich der Mut immer mehr verließ, der Mama gegenüberzutreten und zu sagen: „Ich habe es geschafft, aber dein Sohn Walter noch nicht.“ Inzwischen war es dunkel geworden. Ich stand vor dem großen Haustor und zögerte, aber schließlich drückte ich doch die Klingel. Mama war unglaublich schnell von der Wohnung herunter gelaufen. Wir umarmten uns, weinten vor Freude und Aufregung und sie war sehr, sehr nett zu mir.
Und dann begann die schwere Zeit des Wartens und Bangens und wir hofften so sehr, dass auch Walter in den nächsten Tagen vor der Tür stehen und uns herunter-klingeln wird.
© Eva Lunger 2025-03-13