Als der Junge wieder Boden unter seinen Füßen spürt, öffnet er seine Augen. Die Kinder sind zurück. Sie toben, spielen, lachen. Alle schienen so fröhlich. Eine Rutsche führt von einem Baumhaus hinunter in einen See. Keinen See, ein Meer und den schönsten Strand, den er je gesehen hat. Eine riesige hellblaue Burg mit goldenen Türmen ragt vor ihm empor. Die Kinder von vorher findet er erneut beim Fußballspielen, jedoch in der Luft schwebend und den Ball jagend. Er weiß nicht, wo er zuerst hinsehen soll: ein kunterbuntes Bällebad, Süßigkeiten an Bäumen, welche bis in die Wolken hinaufragen, kleine Drachen, die anstelle der Rotkehlchen und Spatzen durch den Himmel fliegen und Blumen – bunter, als alle, die er je zuvor gesehen hat. „Willkommen Zuhause!“, sagt eine leise Stimme neben ihm. Er erwartet den „Weißen“ Jungen neben sich zu finden, doch es war sein Soffhase, welcher neben ihm aufgeregt auf und ab hüpfte und ihn willkommen hieß. Der kleine Junge wollte gerade widersprechen, dass, Nein, das war nicht sein Zuhause, dass er gehen wollte, als er unter den Armen gepackt wurde und mit Leichtigkeit in die Luft gehoben wurde. Er sah auf und blickte in die Augen des vor Lachen strahlenden „Weißen“ Jungen. „Wo sind wir?“, erkundigt sich der Junge zögerlich. „Zuhause, Benny.“ Benny wollte widersprechen, sich losreißen, fragen, woher er seinen Namen kannte, sich beschweren, dass er nicht einmal den Namen des Anderen kannte. Fragen stellen und hinterfragen. Das war es, was seine Mutter ihm beigebracht hatte. Er macht sich daran seine wirren Gedanken kund zu tun, als der „weiße“ Junge ihm behutsam gegen die Stirn tippt. Und dann sagt er nichts, gar nichts, seine Ängste verschwunden, all seine Bedenken erloschen. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, nichts vor dem er Angst haben müsste. Er lächelt, lässt los und genießt den Flug über die Insel, die er sein neues Zuhause nennen soll.
Ohne, dass er es bemerkt, lässt der „weiße“ Junge ihn los, sodass er allein fliegen kann. Und er fliegt, er schwebt, so ausgelassen. Auch als er bemerkt, dass ihn nichts und niemand hält, verspürt er keinerlei Angst oder Bedenken. Im Gegenteil: er fühlt sich frei und glücklicher als je zuvor. Er fliegt einen Looping und lacht, so engelsgleich und sorglos, wie lange nicht mehr. Er lacht über den golden glitzernden Staub, der ihn umgibt und darüber, wie klein alles unter ihm ist und darüber, dass er es nicht glauben kann, dass er das Glück hat in diesem Paradies zu leben. Als der „weiße“ Junge stoppt, hält auch Benny Inne und schaut sein Gegenüber erwartungsvoll an. Dieser lächelt und dreht sich mit ausgebreiteten Armen demonstrativ im Kreis. „Willkommen Zuhause!“, beide lächeln, „Willkommen im Land der toten Kinder!“
© Melissa Reichel 2021-07-20